Walther von der Vogelweide (ca. 1170 bis ca. 1230) brachte die „Ich-Perspektive“ in die Lyrik:

Ich saß auf einem Steine
und deckte Bein mit Beine,
Den Ellenbogen stützt ich auf
Und schmiegte in die Hand darauf
Das Kinn und eine Wange.
So grübelte ich lange:
Wozu auf Erden dient dies Leben? …
Und konnte mir nicht Antwort geben,
Wie man drei Ding erwürbe,
Daß keins davon verdürbe.
Die zwei sind Ehr und irdisch Gut,
Das oft einander Abbruch tut,
Das dritte Gottes Segen,
Der allem überlegen.
Die hätt ich gern in einem Schrein;
Doch leider kann dies niemals sein,
Daß weltlich Gut und Ehre
Mit Gottes Gnade kehre
In ganz dasselbe Menschenherz.
Sie finden Hemmnis allerwärts;
Untreu hält Hof und Leute,
Gewalt geht aus auf Beute,
Gerechtigkeit und Fried ist wund,
Die drei genießen kein Geleit,
Eh diese zwei nicht sind gesund.

Seine Themen waren Liebe, Moral, Politik (vor allem bewegten ihn die bürgerkriegsähnlichen Zustände seiner Zeit) sowie Religion bzw. Papstkritik.

Joachim Fernau ordnet dieses Wirken in seinem Buch über Die Genies der Deutschen wie folgt ein: „Er wurde nicht nur einer der größten deutschen Lyriker, sondern zugleich der Prophet der nahen Zeitwende. Er war, wenn man das Wort gebrauchen darf, der erste deutsche Leitartikler. Es gibt Gedichte von ihm, in denen er voller Verzweiflung das Ende der ritterlichen Zeit beklagt, haßerfüllt auf den Reichszerstörer in Rom blickt. Schließlich vergräbt er sich in die Einsamkeit seines Lehens in Würzburg, sitzt stundenlang an den Ufern des Mains, sieht den Vögeln zu und endet mit der Hölderlinschen Elegie: ‚Ist mir mein Leben geträumet, oder ist es wahr?‘

Wir mußten bis Klopstock, Goethe und Hölderlin, das heißt, ein halbes Jahrtausend, warten, ehe Deutschland noch einmal eine solche Blüte erlebte.

Aber wer vermutet, daß nun davon für Generationen eine ungeheure Wirkung ausging, irrt sich. Die Hochblüte bricht ab. Es war kein Beginn, es war, wie es ihr Geist auch tatsächlich ausweist, der Abgesang. Es waren alles letzte Hymnen auf den Geist Ottos des Großen.“