Wir leben in einem „postfaktischen Zeitalter“, heißt es immer wieder. Das ist als Zustandsbeschreibung richtig: Emotionen bestimmen im Zeitalter der Massen, das schon vor über 100 Jahren angebrochen ist, was als „wahr“ von den meisten wahrgenommen wird. Falsch ist hingegen, daß die Propaganda bzw. angebliche „Fake News“ von „Rechtspopulisten“ das Meinungsklima vergiften und wir uns deshalb in einem „postfaktischen Zeitalter“ befinden. Dieses Narrativ wird aber gern von Massenmedien konstruiert. Fakt ist: Eine große Portion Populismus ist bei allen erfolgreichen politischen Angeboten dabei.
Der Medienwissenschaftler Bernard Pörksen lehnt die Rede vom „postfaktischen Zeitalter“ noch aus einem anderen Grund ab: Es handle sich um eine „Resignationsvokabel“, die der „Wahrheitskrise“ mit „Ohnmacht“ begegne. Es ist aber Aufgabe von Medien, Wissenschaftlern und mündigen Bürgern, die offiziellen Erzählungen der Regierung anzuzweifeln und sich eine eigene, unabhängige Meinung zu bilden. Statt ein „postfaktisches Zeitalter“ zu beschwören und unterschwellig den Kontrollinstanzen (Opposition, kritische Bürger, …) Schuld an abweichenden Standpunkten zu geben, sollte der Fokus darauf liegen, jede „Regierungsgläubigkeit“ zu vermeiden. Zu einer Demokratie gehört es dazu, der Regierung zu mißtrauen.
Der Philosoph Odo Marquard hat diese notwendige Skepsis als eine konservative Tugend betrachtet. Konservative wissen um die Unvollkommenheit der Welt und verachten deshalb Utopien. Das bedeutet, daß es nicht die eine Wahrheit gibt. „Die Skeptiker haben dafür Sinn, denn sie zweifeln: sie kultivieren – wie das Wort Zweifel sagt – mindestens zwei, also eine Mehrzahl von Überzeugungen in ihrem Kopf und von Wirklichkeitstendenzen in ihrer Wirklichkeit. Das erlaubt und befähigt uns, nicht nur mehr Wirklichkeit zu sehen, sondern auch in mehr Wirklichkeit – in mehreren Wirklichkeiten – zu leben.“ (Quelle: Odo Marquard: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Stuttgart 2003. S. 285)