Seit dem 19. Jahrhundert „waren die Russen durchschnittlich alle 33 Jahre in Kämpfe in oder an der nordeuropäischen Tiefebene verwickelt“, rechnete der britische Buchautor Tim Marshall 2015 in seinem Bestseller mit dem Titel Die Macht der Geographie vor. Aufgrund dieser historischen Erfahrung habe Rußland besonders sensibel auf das Vorrücken der NATO nach Osten reagiert. Marshall ahnte, wie das enden dürfte. Denn: „Wenn eine Großmacht mit einer Bedrohung konfrontiert ist, die sie als existenziell betrachtet, wird sie mit Gewalt reagieren.“
Aus geopolitischer Sicht kam hinzu, daß Sewastopol auf der Krim der einzige jederzeit eisfreie Hafen für Rußland ist. „Präsident Putin hatte eigentlich keine Wahl – er mußte die Krim annektieren, auf der nicht nur viele russischsprachige Ukrainer leben, sondern, viel wichtiger, die auch den Schwarzmeerhafen Sewastopol beherbergt.“
Darüber hinaus dürfte bei der Expansion Rußlands nach Westen die Schwäche im russischen Fernen Osten eine wichtige Rolle spielen. „Es ist gut möglich, daß China auf lange Sicht die Kontrolle über Teile Sibiriens erlangt, allerdings aufgrund sinkender russischer Geburtenraten und chinesischer Emigration Richtung Norden.“ Bereits heute haben sich viele chinesische Unternehmen in Rußland angesiedelt. Marshall prognostiziert daher, daß „die leeren, sich entvölkernden Landstriche des russischen Fernen Ostens unter eine chinesische kulturelle und schließlich politische Oberherrschaft geraten“.
Literatur: Tim Marshall: Die Macht der Geographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt. München 2022.