In unseren Schlüsselbegriffen findet sich bereits die „Mitte (des Volkes)“. Die Mitte steht hier als Gegensatz zu medial gehypten Minderheiten. Zudem gehen wir davon aus, daß diese Mitte mit einem gesunden Menschenverstand ausgestattet ist. Die Mitte ist daher die Summe der mündigen Bürger in einer Demokratie.
Im Gegensatz zur „Mitte des Volkes“ hat Mittelschicht einen akademischen Touch. Wer von der Mittelschicht spricht, will speziell die ökonomischen Ängste der Bildungsbürger ansprechen und muß daher auch Fakten zum wirtschaftlichen Abstieg liefern. Zu finden ist die dazu passende Erzählung über Das Ende der Mittelschicht (2019) beim Wirtschaftsjournalisten Daniel Goffart. Er arbeitete in seinem Buch heraus, daß die deutsche Mittelschicht durch das „Wirtschaftswunder“ der sozialen Marktwirtschaft entstand: „Mit dem steigenden Wohlstand, der zunehmenden Bildung breiter Volksschichten und der guten Beschäftigungslage bildete sich relativ schnell eine breite Mittelschicht heraus. Sie reichte von den akademischen Fachkräften in Wirtschaft und Verwaltung über kleine Selbstständige und Mittelständler bis zum Handwerker und kaufmännischem Lehrberuf. Darüber lag eine sehr dünne Oberschicht von Menschen, denen größere Unternehmen gehörten oder die als Kaufleute, Chefärzte, Manager oder Rechtsanwälte überdurchschnittlich erfolgreich waren. Auch die Unterschicht war in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik sehr dünn – das Bild von der Zwiebel mit dem breiten Bauch in der Mitte und den kleinen Zipfeln oben und unten entsprach dem damaligen Gesellschaftsaufbau.“
Seit 1991 schrumpfte diese „einst so dominante Gruppe um mehr als drei Millionen Menschen“. Trotzdem verdoppelten sich zwischen 2000 und 2010 „die Gehälter in den deutschen Vorstandsetagen“. Goffart (Jahrgang 1961) berichtet davon, daß es seinen Eltern gelang, mit einem „mittleren Angestelltengehalt“ und einer Halbtagstätigkeit der Mutter „ein Haus, viele Urlaube sowie das Studium und die Ausbildung“ von vier Kindern zu finanzieren. Heute wäre es einer solchen Familie nicht mehr möglich, auch nur ein Haus zu kaufen. „Eine Familie mit Durchschnittseinkommen hat heute kaum noch die Möglichkeit, ihre angespannte Lage durch Sparen und Vermögensbildung zu verbessern oder angesichts der demografischen Bedrohung etwas für das Alter zurückzulegen. Der finanzielle Abstieg dieser Menschen ist absehbar. Immer mehr Ökonomen warnen vor der Gefahr einer grassierenden Altersarmut, ohne dass jedoch etwas Durchgreifendes passiert. Die ‚Normalität‘ ist das Fundament des Mittelstands, doch diese Normalität bröckelt. Zu verschwinden drohen die Normalarbeitsverhältnisse, die Normalbürger, die Normalbiografien, der Normalarbeitsalltag und der als ‚Otto-Normalbürger‘ bezeichnete Durchschnittskonsument.“
Wie eine Analyse bei Google Ngram zeigt, wurde der Begriff „Mittelschicht“ in den 1970er-Jahren am häufigsten verwendet. Eine kurze Renaissance erlebte er um 2010 herum. Seitdem wird er immer seltener genutzt. Wir empfehlen, ihn in Zusammenhang mit dem „Abstieg“ einzusetzen. „Abstieg der Mittelschicht“ geht – Google Ngram zufolge (siehe zweite Grafik) – rasant nach oben.
Literatur: Daniel Goffart: Das Ende der Mittelschicht. Abschied von einem deutschen Erfolgsmodell. München 2019.