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(Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, B 145 Bild-00086246, Foto: Unterberg, Rolf, 8. Juli 1959)

Alfred Müller-Armack (1901-1978) war als Leiter der Grundsatzabteilung im Wirtschaftsministerium von Ludwig Erhard der wahre Architekt der „Sozialen Marktwirtschaft“ und somit auch des deutschen Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik.

In Recherche D, Heft 8, zum Thema „Sozialpolitik“ haben wir Müller-Armack ausführlich portraitiert:

Marktwirtschaft und Sozialpolitik

Ist die soziale Marktwirtschaft ein System der Mitte, des Ausgleichs und der klugen Abwägung, sich aus zwei unterschiedlichen Ansätzen jeweils Passendes herauszupicken und als Kompromiß zu vereinigen? Gemessen an dem, was landauf, landab von Politikern, Ökonomen und Journalisten über diesen von Alfred Müller-Armack (1901-1978) geprägten Begriff erzählt wird, entsteht schnell dieser Eindruck.

Doch sein Wortschöpfer dürfte anderer Meinung sein und das, obwohl es naheliegend wäre, von ihm eine Synthese zu erwarten. Denn zunächst einmal beeindruckt an Müller-Armack, daß er vorurteilsfrei die Werke von so unterschiedlichen Köpfen wie Friedrich List, Karl Marx, Max Weber, Joseph Schumpeter, Werner Sombart, Ludwig von Mises und Wilhelm Röpke durchdrang. Ebenso fällt schon beim Überfliegen der Inhaltsverzeichnisse seiner Abhandlungen auf, wie wichtig es ihm war, die Wechselwirkungen von Religion, Politik, Ideengeschichte und Wirtschaft zu erkennen. Müller-Armack betrieb vorbildlich eine verstehende Nationalökonomie. Weder unterwarf er sein Denken einem ideologischen Zielsystem (Liberalismus, Marxismus) noch erschöpfte es sich darin, mathematische Konstruktionen aufzubauen.

Von Rahim Taghizadegan stammt der geistreiche Satz: „Die Mitte ist in aller Regel die feige Auflösung von zwei unverstandenen Gegensätzen, die aus zwei halbsehenden Perspektiven eine vollkommen blinde macht.“ Trifft das auf die soziale Marktwirtschaft zu? Wie Müller-Armack selbst ausführte, versuchten ihre Gegner stets, auf die angeblich fehlendende „gedankliche Tiefe“ dieser wirtschaftspolitischen Konzeption hinzuweisen. In den ersten Jahren der Bundesrepublik habe die Intelligenzija „die fehlenden Bibliotheken“ moniert und die Quantität des sozialistischen Schrifttums hervorgehoben.

Gerade in Zeiten, in denen behauptet wird, der Klimawandel sei menschgemacht, weil 97 Prozent der Wissenschaftler das bestätigten, sollte man sich die lange Tradition der Überheblichkeit linkssozialistischer Konstruktivsten in Erinnerung rufen. Sie sind in der Tat produktiver, was das Beschreiben von Papier betrifft, aber mit der Realität haben diese Erzeugnisse selten etwas zu tun. Die soziale Marktwirtschaft dagegen hat diesen Härtetest der Konfrontation mit der Wirklichkeit bestanden.

Sie war darauf so gut vorbereitet, weil ihre maßgeblichen Vordenker keine Luftschlösser bauten und auch kein Interesse an Utopien vom perfekten Staat hatten. Müller-Armack betont so ausdrücklich, daß die Marktwirtschaft ein „Organisationsprinzip“ sei, „welches vielfältiger Abwandlung zugänglich ist“. Ihm sei es dabei besonders wichtig, „das Ziel des Sozialen wieder menschlicher, konkreter, gebundener, familiärer, überschaubarer, naturverbundener und vielfältiger“ zu definieren. Freilich steckt in diesem relativ offenen, unbestimmten Ansatz bereits der Grund, warum in den späteren Jahren der Bundesrepublik ein ausufernder Sozialstaat entstehen konnte, aber dazu später mehr.

Fürs erste gilt es zu verstehen, warum es falsch ist, kapitalistische und sozialistische Elemente einfach vermischen zu wollen. Es käme dann ein System heraus, bei dem der Staat einige Befehle gäbe, sich auf wenige Interventionen beschränkte oder eben gelegentlich die Notenpresse anwerfen würde, wie es heute die Europäische Zentralbank macht. Gerade die Währungshüter müßten auf ein „wirklich knappes, durch die Zeit hindurch wertstabiles Geld“ achten, da eine „strenge Geldordnung“ das notwendige „Gegenbild der Güterseite“ darstelle. Es erstaunte Müller-Armack daher, daß ausgerechnet die „Verteidiger der Wirtschaftslenkung paradoxerweise hier einem Laissez-faire (…) das Wort reden“. Sie ließen Geld drucken, wenn es anscheinend gebraucht wurde und sorgten so mehrmals für Inflationen, die das Volk enteigneten.

Statt einen faulen Kompromiß zu befürworten, richtete Müller-Armack seine Anstrengungen deshalb darauf aus, die Funktionalität der Wirtschaft als auch des sozialen Bereichs zu stärken. In Entwicklungsgesetze des Kapitalismus (1932) erklärt er das Einzigartige dieser Wirtschaftsform. Zusammen mit den modernen Naturwissenschaften strebe sie die „Utopie zukünftiger Möglichkeiten schon in ihrer gegenwärtigen Bauform“ an. Während sich eine klassische Tauschwirtschaft auf die aktuelle Bedürfnisversorgung konzentriere, sei die „Hereinnahme des Entwicklungsgedankens“ die entscheidende Innovation des Kapitalismus, der sich weder von Ideologien noch religiösen Traditionen leiten lasse.

Solange dies ausschließlich der „Automatik des Marktes“ diene, sei dies förderlich, unterstreicht Müller-Armack. Wer hingegen mit diesem wurzellosen Kapitalismus „eine letztgültige soziale Ordnung“ begründen wolle, begehe einen verhängnisvollen Irrtum. Ähnlich argumentiert haben auch Max Weber und der Philosoph Hans Blumenberg. 1959 erschien von Müller-Armack eine über 600-seitige Abhandlung über Religion und Wirtschaft, in der er attestiert, das „weltgeschichtliche Ergebnis“ des Christentums sei „eine neue Arbeitsgesinnung“ gewesen, die weit über das antike Erbe hinausreiche. Gemeint ist jene asketische Ethik, die schon Weber entdeckte, und für den Fortschrittsdrang der Europäer verantwortlich machte. Wer in der Gegenwart Verzicht üben kann, holt Schwung für große Taten in der Zukunft.

Im Gegensatz zu Weber begriff Müller-Armack die wirtschaftssoziologischen Folgen dieser Diagnose vollends. Genau genommen sind es keine Fort-Schritte, an denen die Europäer interessiert waren. Sie setzten vielmehr zu großen Sprüngen an, wollten das Unmögliche möglich machen und nicht nur einen eingeschlagenen Weg fortsetzen. Einige Jahrzehnte nach Müller-Armack schrieb Blumenberg, der ebenfalls auf diese Thematik stieß, die Europäer arbeiteten seit der Neuzeit mit einem „bohrenden Antrieb“.

Man kann den dahinterstehenden utopischen Geist kritisieren. Es drängt sich aber auch noch eine andere Lesart auf: Europas Stärke bis ins 20. Jahrhundert hinein basierte auf pragmatischer, ideologiefreier Wissenschaft. Heute indes gelten bestimmte Technologien (Solar- und Windkraft) als politisch erwünscht, während andere von Vornherein verteufelt werden (Atom- und Kohlekraft). Müller-Armack lehnte eine Bevorteilung bestimmter Wirtschaftssektoren oder Branchen stets ab. Was er sich lediglich vorstellen konnte, war eine bewußte Bevorzugung von kleineren und mittleren Unternehmen, die man gerade im ländlichen Raum brauche, um die Urbanisierung in Grenzen zu halten.

Dieses Ziel sowie andere wirtschafts- und sozialpolitische Vorhaben könne man jedoch nicht per Dekret verordnen. Die Marktwirtschaft erfordere vielmehr „täglich neue Entscheidungen“ über intelligente Anreize. Wie schwierig das ist, wußte Müller-Armack. Die Wirtschaftslenkung habe gegenüber der Marktwirtschaft „einen organischen Vorteil“, der darin bestehe, daß Befehle schneller ausgeführt werden könnten als die „unentwegte Bemühung der Koordinierung der Wirtschaftspolitik“.

Warum aber dann ist sie dennoch vorzuziehen? Müller-Armack betont dazu: „Der tiefste Vorwurf, den wir der Soziallenkung machen müssen, ist der, die Dimension des Menschen verfehlt zu haben. Sein Lebensmedium ist die Indirektheit, durch die er sich aus der dem Tier eigenen Zielbindung befreit. Er ist das zu Methoden befähigte Wesen, das sich eine Fülle von Zielen setzt und diese zu realisieren versucht. Die stupide Direktheit, auf ein einziges Ziel zuzusteuern und in dieser Aktion keine Freiheit mehr zu haben, findet ihr Vorbild allein in der tierischen Umweltbeziehung.“

Mit diesem Fazit zur Überlegenheit der Marktwirtschaft, die in der Natur des Menschen bereits angelegt ist, läßt sich elegant zur Sozialpolitik überleiten. Denn auch hier sieht Müller-Armack die Notwendigkeit mit Anreizen zu arbeiten, statt den Markt einfach auszuschalten. Als Beispiele dafür nennt er Kinderbeihilfen, Mietzuschüsse und Wohnungsbauzuschüsse. Sie seien der „Idealfall eines marktgerechten Eingriffes“, denn das „Rechnungssystem wirtschaftlicher Leistungen bleibt unbehelligt“.

Darüber hinaus sieht Müller-Armack Mindestlöhne als unproblematisch an. Konjunkturpolitische Maßnahmen begrüßt er in gleicher Weise, insistiert aber, sie müßten Klein- und Mittelbetriebe im Blick behalten und dürften keineswegs eine Überbeschäftigung auslösen. Steuernachlässe und direkte Prämien hielt er dabei für den richtigen Hebel. Bemerkenswert ist dies, da seine theoretischen Annahmen unser Konzept zur Stärkung des ländlichen Raums bestätigen (vgl. Recherche D, Heft 6: Studie: Deutschlands Problemzonen).

Alfred Müller-Armack war davon überzeugt, daß sich die soziale Marktwirtschaft immer neue Ziele setzen müsse. Im Februar 1960 formulierte er daher Vorschläge für die Einleitung ihrer zweiten Phase. Was ihm dabei vorschwebte, ist bis heute relevant geblieben. Zentral sind etwa ökologische Forderungen wie die „Reinhaltung der Luft und des Wassers“, ein Aufruf zur Mäßigung bei der Planung der Verkehrswege sowie eine Verbesserung der Raumstruktur „bis hin zu der unserer Dörfer“. Zugleich warnte Müller-Armack vor der erheblichen Finanzbelastung durch die „vielfältigen Hilfen für die private Wirtschaft“. Hier müsse sich der Staat zurückziehen, weil die anfänglichen Produktions- und Investitionsprobleme gelöst werden konnten.

Im Jahr 2018 gibt die Bundesrepublik Deutschland trotzdem die unfaßbare Summe von 188 Milliarden Euro für Subventionen aus, wie das Kieler Institut für Weltwirtschaft eruiert hat. Außerdem gelang es nie, die von Müller-Armack geforderte zweite Phase der sozialen Marktwirtschaft einzuläuten. Statt dessen überwiegt die direkte Bedürfnisbefriedigung über einen anonymen Sozialstaat.

Man kann diese Entwicklung Müller-Armack zwar nicht ankreiden, da er den „unheimlichen Hang der Deutschen, allzu bereitwillig in jeder angeblichen Notzeit auf eine freiheitliche Ordnung zu verzichten“, schon 1946 in Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft anprangerte. Dennoch ist sein Ansatz, auf kapitalistische Dynamik und eine tatkräftige Sozialpolitik zu setzen, anfällig für Mißbrauch und Überdehnung.

Im Vergleich zu anderen Vordenkern der Marktwirtschaft war Müller-Armack bereit, einen recht großen Aufwand für die soziale Absicherung des Volkes zu treiben. Dafür 40 Prozent des Bundesetats auszugeben, hielt er durchaus für angemessen. Unbedacht blieb dabei, wie die Entstehung einer bürokratischen Umverteilungsmaschine verhindert werden kann. Dies gilt es jetzt nachzuholen.